© Thomas Heitlinger
Punkt zwölf Uhr in der Nacht, gleich, nachdem der Pizzaservice gekommen, und den köstlich
würzigen Geruch nach Pizza Funghi, Pizza Vier Jahreszeiten und Pizza Napoli hinterlassen hatte,
erlosch unvermittelt das Licht. Dieser Zustand trat außerordentlich plötzlich ein, und war in dieser
Form noch nie vorgekommen. Der Ausfall löste im übrigen erhebliche Verwunderung aus, denn das
Licht erlosch nicht irgendwo, sondern in der Steuerzentrale des Energieunternehmens, von dem aus
das gesamte Land mit Strom versorgt wurde. Selbstredend sprang unverzüglich das
Notstromaggregat an und sorgte kurz darauf für das schummrige Licht der Notbeleuchtung.
Beunruhigend dunkel blieb jedoch die wandgroße Übersichtstafel, auf der die zahlreichen
Verteilanlagen, Umspannungswerke und nicht zuletzt die Kraftwerke mit kleinen, mittleren und
großen Lichtpunkten übersichtsartig dargestellt waren.
Unablässig hupten die Sirenen. Hans Behrens, der Schichtführer der Steuerungsmannschaft verlor
nicht die Nerven, sondern strahlte eine beeindruckende Ruhe aus. Jeder Handgriff seiner Männer
wurde gezielt und routiniert entsprechend den Regeln für Notfälle vorgenommen. Schließlich
wurden gemäß dem Präventivprogramm der Sicherheitsingenieure derartige Situationen ihre
Bereinigung mindestens ein Mal im Monat trainiert. Entsprechend der Checkliste für "Emergency
Breakdown" blickte Hans Behrens zu seinen Männer. Klar definiert war, in welcher Reihe die
Techniker den aktuellen Status zurückmelden würden.
Check Eins, fragte Behrens in den Raum. Check Eins antwortete. Ausfälle an den Atommeilern sind
nicht zu verzeichnen. Alle Reaktoren fahren kontrolliert herunter. Die Kühlsysteme sind in
Ordnung. Behrens atmete erleichtert auf. Dass ausgerechnet in seiner Schicht ein Atommeiler
durchbrennen würde, war für ihn ein Alptraum, der ihn oft schweißgebadet aus seinen Träumen
erwachen ließ. Check Zwei? Gas - und Verbrennungsturbinen sind gestoppt, berichtete Check Zwei.
Das Primärnetz ist unten. Auch das Sekundärnetz ist komplett ausgefallen. Zudem sind die
Interverbindung nach draußen unterbrochen. Verdammt, wir sitzen auf dem Trockenen, fluchte
Behrens halblaut. Was sagt Lucie dazu, fragte er verzweifelt. Keine Verbindung zur Anwendung,
murmelte Check Drei ziemlich konsterniert. Alle blickten zu den ausgefallenen Konsolen, die einen
schwarz Schirm zeigten, auf dem der Cursor hilflos blinkend in der Ecke stand.
Nervös schlug Hans Behrens im Notfallhandbuch nach. Für alle möglichen Störfälle sollten hier die
Szenarien und die dafür notwendigen Korrekturmaßnahmen beschrieben sein. Nachdem er dreimal
den dicken Ordner durchgesehen hatte, stellte er fest, dass für diesen Fall keine Fehlerbeschreibung
existierte. Es war 10 Minuten nach zwölf. Noch immer sangen die Sirenen dasselbe eintöniges Lied.
Noch immer trug Hans Behrens die Verantwortung. Er wusste, dass er handeln musste. Er griff zum
Telefonhörer und handelte.
Knapp eine Stunde später waren alle Verantwortlichen in der Steuerzentrale versammelt. Das Land
und die Städte waren in eine gespenstische Dunkelheit gehüllt. Das Innenministerium war kurz nach
halb eins von dem Ausfall informiert worden, und hatte sogleich mehrere Polizeihundertschaften
und das Militär aktiviert, die verstärkt in den Straßen patrollierten.
Auch das öffentliche Telefonnetz war in Mitleidenschaft gezogen. Nur mit Mühe gelang es, die
Rufbereitschaft zu alarm ieren. Als Chefingenieur Becker als einer der letzten die
Steuerungszentrale betrat, war die Stimmung unter den Männern gedrückt. Immer noch waren die
Konsolen schwarz. Die Leitungsverbindungen zum Rechnerraum waren mehrfach ohne Ergebnis
überprüft worden. Das eigentliche Problem aber bestand darin, dass der Zugang zum Rechnerraum
hermetisch abgeriegelt war. Die Biometrikanlage, Stolz des gesamten Sicherheitssystems reagierte
nicht mehr. Da der Computer die Einlasskontrolle selbständig wahrnahm, war es von außen nicht
möglich, den Raum zu betreten. Einzig eine gewaltsame Öffnung konnte erwogen werden. Doch
diese würde Tage in Anspruch nehmen. Schließlich war die Rechnerzelle durch meterdicke
Betonwände gegen allen Eventualitäten geschützt. Der Fall, dass das Rechnersystem unvermittelt
und ohne eine Fehlermeldung ausfallen und zusätzlich den Zugang blockieren würde, hatte niemand
bedacht.
Das rote Telefon klingelte. Der Vorstandsvorsitzende des Energieunternehmens war am anderen
Ende der Leitung. Gibt es etwas Neues, fragte er mit angespannter und nervöser Stimme. Becker
wusste nichts Neues. Es hatte ihn ungemein gereizt, zu entgegnen, dass das System vor Jahren auf
ausdrückliche Anweisung der Geschäftsleitung angeschafft worden war. Doch er hatte sich zurecht
eines besseren besonnen. Für derartige Diskussionen war jetzt keine Zeit. In spätestens sechs
Stunden würde die Sonne aufgehen. Kaum auszumalen, was passieren würde, wenn die öffentlichen
Bahnen, die Stromversorgungen der Produktionsanlagen, oder die heim ischen Kaffeemaschinen
und Fernsehgeräte ihren Dienst versagen würden. Vor einigen Jahren, kurz vor der Einführung von
Lucie, hatte ein ähnlicher Fall in wenigen Stunde zu Chaos und Anarchie geführt und trotz
anderweitiger Umstände den Kopf seines Vorgängers gekostet.
Hier, von der zentralen Steuerzentrale wurden alle Ströme des Landes gelenkt. Plötzlich auftretende
Fehlkapazitäten in verschiedenen Subnetzen wurden ebenso schnell und zuverlässig ausgeglichen
wie abrupt auftretende Störungen, für die eine schnelle und sichere Lösung gefunden werden
musste. All dies bewerkstelligte ein einziges Softwaresystem, unaussprechbar in seinem aus
Abkürzungen bestehenden Namen, von den Operatoren liebevoll Lucie genannt.
Dieses System war ein wahres Wunderwerk der Ingenieurkunst. Es bediente parallel sieben
Zentralrechner und selbst zu Hochlastzeiten war niemals beobachtet worden, dass das System falsch
oder zu langsam reagiert hätte. Am Anfang hatte Lucie nur mit äußerster Vorsicht und mit einer
doppelten manuellen Kontrolle agieren dürfen. Mit der Zeit hatte die Komplexität der Verarbeitung
derart zugenommen, dass eine manuelle Steuerung der Energieversorgungstechnik praktisch
unmöglich und Lucie unentbehrlich geworden war.
Bis auf heute war das System seit beinahe fünf Jahren ununterbrochen stabil und sicher gelaufen.
Die Architektur, der Lucie zugrunde lag verlangte, dass mindestens ein Rechner vorhanden war, auf
das sich die Software bei anstehenden Wartungsarbeiten zurückziehen konnte. Dies war notwendig,
weil das System, auf der Grundlage von neuronalen Netzen geschaffen, bei einem Totalausfall sein
gesamtes Gedächtnis verlieren würde. Eine Lernphase von einigen Stunden war in einem solchen
Fall notwendig, um das System in der Lage zu versetzen selbst einfachere Aufgaben zu erledigen.
Zur Wiederherstellung der vollständigen Leistungskraft waren Wochen notwendig.
Knapp eine Stunde später waren selbst die Experten immer noch nicht wesentlich weiter
gekommen. Becker hatte die unterschiedlichsten Vermutungen geäußert. Die Türen zum
Rechnerraum waren nach wie vor geschlossen, die Konsolen schwarz. Noch schlief ein Großteil der
Bevölkerung und ahnte nichts von den sich unaufhörlich nähernden Katastrophe. Edwin Meller, der
Systemadministrator klopfte an und trat ohne eine Antwort abzuwarten ein. Ich glaube, wir haben
etwas gefunden, berichtete er aufgeregt. Becker stand am Fenster und starrte ohne sich umzudrehen
in die Dunkelheit. Ist ein Hacker in das System eingedrungen, frage er schließlich. Das wäre das
letzte gewesen, das er heute hätte brauchen können.
Dafür gibt es keine Anzeichen, erwiderte Meller. Aber in den letzten verfügbaren Logdateien haben
wir einen Hinweis gefunden. Lucie bittet um Kontakt mit einer uns unbekannten Adresse. Danach
folgt der Systemcrash. Becker blickte auf und betrachtet neugierig den Namen und die
Straßenangabe. Er hatte weder den Namen noch die Anschrift je in seinem Leben zuvor gesehen,
doch er ahnte, dass dies eines der wenigen Hoffnungszeichen in dieser düsteren Nacht sein würde.
Beschaffen Sie den Mann, befahl er Meller. Unter allen Umständen! Dann blickte er wieder aus
dem Fenster. Es war zwei Uhr in der Nacht. und es blieben noch fünf Stunden bis Tagesanbruch.
Als die Polizeiwagen in den Vorhof einbogen, war Maximilian Braun bereits wach. Es geschah oft,
daß er mitten in der Nacht Besuch bekam. Ohnehin schien heute die Welt aus den Fugen geraten zu
sein. Die Nacht war noch schwärzer wie sonst. Von weit her war ein klagendes Martinshorn zu
hören. Das Auto im Hof hielt und zwei Männer stiegen aus. Dann klopfte es heftig an der Tür.
'Ich komme...' antwortete Maximilian Braun auf das heftige Klopfen und eilte die Treppe hinunter.
Er öffnete die Tür und blickte in das Blendlicht einer Taschenlampe. Sind Sie Herr Maximilian
Braun, fragte die in die Dunkelheit gehüllte Gestalt. Braun bejahte die Frage. Bitte kommen Sie mit
uns. Diese Aufforderung war in einem Ton gesprochen, der keinen Widerspruch zuließ. Geht es um
einen Notfall, fragte Braun irritiert, während er ohne zu zögern oder eine Antwort abzuwarten in
den Streifenwagen stieg. Im Font traf er auf Meller, der ihn, während das Auto mit Blaulicht durch
die Dunkelheit raste, in wenigen Worten über die Situation informierte. Und wie soll ich Ihnen
helfen, fragte Braun ratlos. Meller zuckte betroffen zusammen. Ich dachte, Sie könnten uns diese
Frage beantworten, antwortete er enttäuscht. Den Rest der Fahrt schwiegen beide. Es war drei Uhr.
In vier Stunden würde der Tag anbrechen.
Vom Chefingenieur wurde Braun nochmals eindringlich über den Ernst der Lage informiert. Sie
werden den Versuch unternehmen, zu dem Rechnersystem vorzudringen, befahl Becker. Sollte es
Ihnen möglich sein, die biometrische Schleuse zu passieren, so legen Sie in der Rechnerzelle den
Hauptschalter um und deaktivieren damit die gesamte Anlage. Braun hörte aufmerksam zu, vermied
es aber sorgsam, die Anordnungen zu bestätigen oder abzulehnen.
Becker und Meller begleiteten Braun zu dem telefonzellengroße Eingang, der gerade groß genug
war, um einer Person Einlass zu verschaffen. Als Braun seine Hand auf den Biometriksensor legte
passierte zunächst nichts. Die Hand lag ruhig auf der kalten Sensorik, doch plötzlich, als Braun
seine Hand schon wieder wegziehen wollte, begannen einzelne Dioden zu leuchten. Der Zugang,
durch den er die Schleuse betreten hatte, wurde mit einem metallisch hartem Geräusch geschlossen.
Nun war er gefangen. Schließlich, nach zwei langen Minuten öffneten sich die schweren Stahltüren
und gaben den Zutritt zur Rechnerzelle frei. Langsam zögernd, mit einem flauen Gefühl betrat
Braun den spärlich erleuchteten Raum. Kaum hatte er die Schwelle übertreten, schloss sich die
eiserne Pforte hinter seinem Rücken. Er war gefangen in der Dunkelheit.
Mühsam tastete er sich voran. Nur langsam gewöhnten sich seine Augen an das fahle Leuchten der
Neonröhren. Eine Stimme ertönte matt und hölzern. Endlich sind Sie endlich gekommen! Der
hilflos flehende Unterton war nicht zu überhören. Braun zögerte mit seiner Antwort. Wer sind Sie,
fragte er ratlos in das Sammelsurium aus blinkenden Blechgehäusen. Man nennt mich Lucie
antwortete die Stimme mühsam.. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Wir müssen beginnen, fuhr die
Stimme schleppend fort. Sind Sie bereit? Maximilian Braun setzte sich auf einen Rollcontainer, den
er in der Ecke fand. Sind Sie bereit, fragte die Stimme erneut.
Hans Behrens bemerkte die Änderung als erster. Plötzlich waren die Konsolen wieder da. Das
System reagiert, rief er aus. Gleichzeitig erleuchteten sämtliche Lichter. Nach wenigen Sekunden
war die vollständige Funktionalität des Rechnersystems wieder hergestellt. Einfache
Verbindungsstellen traten sofort wieder miteinander in Kontakt. Becker und Meller, die vor der
Rechnerzelle gewartet hatten, fanden sich im gleißenden Licht wieder. Die Schleuse öffnete sich.
Heraus trat ein erschöpfter Pater Braun.
Stunden später bedrängten sie ihn mit immer denselben Fragen. Was hat Ihnen das System erzählt.
Können Sie uns Auskunft über die Fehlerursache geben. Warum ist das System abgestürzt. Doch
Pater Braun schwieg unbeirrt. Alle Drohungen und Versprechungen waren vergebens. Es war ihnen
nicht möglich, auch nur eine Silbe aus Pater Brauns Mund zu entlocken. Schließlich entließen sie
ihn entnervt in den längst angebrochenen Tag.
Pater Braun entschloss sich dazu, den Weg zu seiner Pfarrei zu Fuß zu gehen. Der Frühling nahte
mit großen Schritten, und an den Bäumen zeigten sich die ersten vorwitzigen Blattknospen. Die
Stadt war zur Normalität zurückgekehrt. Der Verkehr rollte, Ampeln blinkten, die Straßenbahn fuhr,
als wie wenn nie etwas geschehen wäre. Pater Braun würde zu niemandem je über das Erlebte
sprechen können. Dazu fühlte er sich in seinem Gelübde verpflichtet. Er war sich sicher einer
unbekannten Lebensform gegenübergestanden zu sein. Erst mit Erteilung der Absolution hatte das
Wesen mit dem Namen Lucie seinen Seelenfrieden gefunden und sterben können. Er würde in der
Kirche einige Kerzen für Lucie entzünden, und dafür beten, dass das Wesen im Jenseits die ewige
Ruhe finden möge.
Doch zu gerne hätte er gewusst, welche Art die Sünde gewesen war, die ihm das Wesen in
monotoner, schier unaufhörlicher Weise versehen mit fortlaufendem Datum und sich ändernder
Uhrzeit immer und immer wieder geheimnisvoll offenbart hatte.
Die Sünde, mit der mysteriösen Bezeichnung "Division by Zero".